Die Bieler Nacht der Nächte
Zwei Aulendorfer laufen die
100-km-Ultramarathonstrecke
(Biel/Schweiz). Zum 52. Mal wurden Mitte Juni, wie jedes Jahr, die Bieler Lauftage ausgetragen. An die Ultramarathondistanz auf der großen Schleife über 100 Kilometer wagten sich die Aulendorfer Hobbysportler Martin Braitsch und Jürgen Müller, die sich beide erstmals an einem Wettkampf dieser Distanz versuchten.
Jedes Jahr Mitte Juni zieht die Stadt Biel am Rande des schweizerischen Jura wie ein Magnet die Ultra-Langstreckenläufer aus weiten Teilen Europas an. Zählt man alle Finisher dieses Laufwochenendes zusammen, so kommt man auf über 3.500 Finisher, allein auf der 100km Strecke schafften dieses Jahr 1.260 Teilnehmer die komplette Distanz. Gelaufen wird zu großen Teilen auf Naturwegen und zwar auf einer großen Runde. Durch die Startzeit um 22 Uhr ist der Gebrauch einer Stirnlampe unabdinglich, auch wenn die Organisatoren die komplette Strecke eindeutig ausschildern und die Richtungsschilder mit Taschenlampen beleuchten.
Vor etwa einem Jahr liefen Martin Braitsch und Jürgen Müller bereits an zwei Tagen den 140 Kilometer langen Iller-Radweg ab – selbst organisiert und ohne Begleitung. Dieses Jahr bereiteten sich beide in vielen langen Trainingsläufen akribisch auf die Bieler Nacht der Nächte vor. „Einmal im Leben musst Du nach Biel“ heißt der Titel eines Buches, welches der in der Szene gut bekannte Laufveteran Werner Sonntag vor Jahren schrieb. Und in der Tat: Viele, die schon ein- mal über die Marathon-Distanz hinaus gelaufen sind, erliegen dieser Versuchung und die meisten derer, die dies erfolgreich tun, kommen immer wieder…
Auslöser für die Entscheidung, in Biel zu starten, war das Geburtstagsgeschenk Jürgen Müllers an seinen Lauffreund Martin zu seinem Geburtstag im November 2009: Die Anmeldung zu diesem Lauf. Braitsch, der eigentlich Individualläufe den Wettkämpfen vorzieht, war zunächst überrascht, doch sofort wurden Trainingspläne erstellt und das Ziel angegangen. Er nahm sich zwei Pläne mit Zielzeiten um 9 und 10 Stunden vor, absolvierte in 7 Monaten Training über 2.700 Trainingskilometer – monatlich fast 390 km, darunter 7 Läufe zwischen 40 und 60km. Im Aulendorfer Stadion lief er einen Trainingsmarathon auf der Tartanbahn in 3:08:28h, den 1,7 km langen Trimm-Dich-Pfad in Aulendorf umrundete er in einer Einheit 20 Mal… Müller begnügte sich mit wesentlich weniger Trainingskilometern, versäumte jedoch nicht, die wichtigen langen Läufe in seine Vorbereitung einzubeziehen: Über ein Dutzend Läufe über 30 Kilometer, davon die Hälfte über die Marathondistanz bis maximal 50km standen bei ihm zu Buche.
Bei auch in der Nacht angenehmen Temperaturen nicht unter 16°C und ohne den eigentlich vorhergesagten Regen machten vor allem die ausgelassen feiernden Schweizer Anwohner an der Strecke mit zahlreichen Festen in den zu durchlaufenden Orten und großer Anteilnahme auch tief in der Nacht für alle Läufer zu einen einmaligen Erlebnis. Schon kurz nach dem Start durch die be- leuchteten und von dicht gedrängten Zuschauern gesäumten Straßen des Städtchens Biel ist es schwierig, das Tempo auf das der Distanz entsprechende Maß zu drosseln. Hier herrscht Gänsehautfealing – erst Recht bei „Ersttätern“. Bei Kilometer 7 geht es mit einem ersten heftigen Anstieg hinaus aus dem Stadtbereich und hinein in die dunkle Nacht, in der nur die Schritte der Läufer und der eigene Atem zu hören sind.
So wie in jedem Jahr war es ein besonderes Highlight, die historische überdachte Holzbrücke bei Aarberg bei km 17 zu durchlaufen, die die Zuschauer in gewohnter Weise so dicht säumten, dass die Läufer den Eindruck bekommen mussten, durch einen Tunnel zu laufen.

Diese Nähe zum Publikum ist sonst nirgends zu finden und hinterlässt wohl fast bei jedem Läufer eine unvergessliche Wirkung. Natürlich werden die Zuschauerspaliere in den Ortschaften mit zunehmender Nacht dünner. Dennoch wird oftmals diese Stille auch an unerwartenden Stellen unterbrochen: Ganze Gruppen lassen sich teilweise stundenlang auch abseits der Ortschaften auf freier Strecke nieder, um die Läufer moralisch zu unterstützen – ein Phänomen, dass man sonst selten findet.
Den ersten Kontrollpunkt bei Kilometer 38,5 durchlaufen Braitsch (3:18 h) und Müller (4:16 h) planmäßig und auch beim zweiten nach 56,1 km waren beide noch im Rahmen ihrer jeweiligen Vorstellungen (Braitsch 4:57 h; Müller 6:43 h), auch wenn beide bereits hier über „nicht mehr ganz lockere Beine“ klagten. Direkt danach schloss sich die berüchtigte Passage des Dammes entlang der Emme an, an dem es über 11 km flussaufwärts auf dunkler, unebener Strecke über Äste, Wurzeln, grobe Steine und zum Teil durch hohes Gras geht – ein Hindernislauf mitten in der Nacht mit bereits müden Beinen.
Doch auch das überstanden die zwei Aulendorfer und passierten bei Kilometer 76,6 noch immer im vorgestellten Rahmen den letzten Kontrollpunkt (Braitsch 6:58h; Müller 9:45h). Direkt hinter dieser Zeitnahmestelle gibt es nochmals einen heftigen Anstieg, der den Läufern abermals allen Willen abfordert. Kurz darauf folgt ein Gefällestück, welches die Muskulatur oft mehr beansprucht, als ein Anstieg. Jürgen Müller musste nun mit leichten Krämpfen weiter laufen, teilweise gehen. Dennoch erreichte er mit eisernem Willen nach 13:51,28 Stunden überglücklich das Ziel und resümierte für sich, dass sich der Trainingsaufwand für das Erreichen des Zieles in Biel allemal gelohnt hat.
Martin Braitsch konnte sein zu Beginn des Laufes angeschlagenes Tempo relativ gut halten und finishte schlussendlich in hervorragenden 9:18,08 Stunden. Damit belegte er den 53. Gesamtrang und den 12. Platz seiner Altersklasse M40. Auch er zog für sich das Fazit:
„In Biel muss man einfach dabei gewesen sein. Auch für mich war es ‚Die Nacht der Nächte‘, obwohl ich während des Laufes Jogi (Jürgen Müller) gedanklich ein paar Mal verflucht habe.“
Mit etwas Abstand jedoch reifen schon wieder Gedanken über neue Herausforderungen, wie z. Bsp. ein 24-Stundenlauf auf der Aulendorfer Tartanbahn, eine Bodensee-Umrundung in drei Tagen, ein Lauf zum Badeurlaub über die Alpen nach Italien, oder…
Sieger des Laufes wurde der Schweizer David Girardet in 7:31,01 Stunden, die Frauenwertung gewann die Deutsche Branka Hajek in 8:46,29 Stunden.